Liebe Schwestern und Brüder,

Weihnachten diesmal ganz anders. – Beinahe möchte man sagen: Diesmal nahezu das Gegenteil: Kein Familienfest, kein gemütliches Beisammensein, kein Hutzobnd, kein gemeinsames Singen. Auch bei uns in der Kirche wird es dieses Jahr schwierig. Momentan dürfen wir zwar noch Gottesdienste feiern, jedoch nur mit begrenzter Anzahl, maximal 45 Minuten, ohne Lieder. Ob die Regelungen zu Weihnachten noch so sein werden, weiß im Augenblick keiner. Zu den Vespern und Metten in Eibenstock und Carlsfeld werden wir in jedem Fall nur diejenigen hineinlassen können, die sich vorher dazu angemeldet haben. Zusätzlich wollen wir, wieder wie zu Ostern, eine Video-Aufnahme online auf unsere Homepage stellen.

Weihnachten – dieses Jahr ins Gegenteil verkehrt?

Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsre Nacht nicht traurig sein!“ – so dichtete es Dieter Trautwein 1963. Sie finden das Lied in unserem Gesangbuch unter der Nr. 56. Vielleicht können Sie es in diesen Tagen ja einmal zur Hand nehmen?
Gott kommt mitten in der Nacht. Am tiefsten Punkt, ganz unten – dort offenbart er sich. Man möchte fast meinen: in seinem Gegenteil. Der Allmächtige – als ganz schwaches Kind. Der Schöpfer unendlicher Galaxien als wehrloses Geschöpf. „Der immer schon uns nahe war, stellt sich als Mensch den Menschen dar.“
Unsere Welt ist voller Fragen, voller undurchschaubarer Zusammenhänge. „Wer blickt da heute schon noch durch?“ – haben mir in den letzten Wochen viele gesagt. Nein, wir haben nicht den Durchblick. Das müssen wir wohl zugeben. Wir stehen vor vielen Rätseln. Das macht uns vielleicht Angst. Auf jeden Fall macht es uns müde.
Der Blick auf das Kind in der Krippe kann uns davon befreien. „Bist du der eignen Rätsel müd? Es kommt, der alles kennt und sieht!“ – Wir müssen nicht die großen Welterklärer sein. Es genügt, wenn wir unser Leben diesem Kind hingeben. Er macht uns klar und einfach. Wie wäre das, wenn wir dieses Weihnachten einmal besonders innehalten und eben das still anschauen: Gott legt all seine unendliche Macht aus der Hand und kommt mitten in die Unruhe und Dunkelheit dieser Welt hinein, mitten in die Nacht. Er tut das mit großer Ruhe und Souveränität. Es entgleitet Ihm dadurch nichts. Aber Er fängt noch einmal ganz neu mit uns an. Nicht mit Macht, nicht mit Verordnungen und Maßgaben, wie das die Politik immer tun muss – sondern so, dass Er wirklich uns selbst begegnen will. Durch alle Masken und alles, was wir uns selbst und anderen so vorspielen, schaut Er hindurch – und sieht uns, so wie wir sind. Nicht, um uns bloßzustellen – sondern um sich zu uns zu stellen.
„Komm an meine Krippe“, sagt Er, „komm zu Mir. Hier darfst du sein. Schau auf Mich. Ich sehe dich. Bei Mir darfst du zur Ruhe kommen. Ich werde dir sagen, wer du wirklich bist.“ – „Er sieht dein Leben unverhüllt, zeigt dir zugleich dein neues Bild.“
Das ist Weihnachten. Nicht all das andere, was wir im Laufe der Zeit da drum herum gebaut haben an schönen Traditionen (und schön sind sie ja!). Aber das ist der Kern. Vielleicht liegt in all dem Verlust, in all dem Verzicht dieses Jahres ja gerade diese eine große Chance: Dass wir wieder zur Sache kommen, zum Kern. Es könnte eine gewaltige Überraschung werden, eine schöne Bescherung!
Wenn dieses Weihnachten wieder Jesus selbst – ohne allzuviel anderes – für uns im Zentrum steht – dann tut sich von dort her vielleicht doch noch einmal eine Chance auf für unsere zerstrittene Welt, für zerrüttete Familien, für entzweite Freundschaften: „Nimm an des Christus Freundlichkeit, trag seinen Frieden in die Zeit!
Wer bei Jesus, diesem Licht in der Nacht, zur Ruhe kommt; wer durch Ihn einen neuen Frieden gewinnt, eine Freundlichkeit, die allen Streit dieser Welt zerrinnen lässt – in dem gewinnt eine Stärke Raum, die nicht von dieser Welt ist. Der darf verankert sein in diesem Licht aus der ewigen Welt Gottes, das mitten in die Nacht dieser Welt gekommen ist. Und den kann die Dunkelheit dieser Zeit nicht mehr vollends in Besitz nehmen.
Wir staunen über Menschen, in denen so eine stille Kraft wohnt; die allem Hass, aller Not, aller Anfeindung mit Sanftmut begegnen können. Wie wünschte ich mir, dass unsere Gemeinde so ein Zeugnis gerade in dieser Zeit sein könnte! „Schreckt dich der Menschen Widerstand, bleib ihnen dennoch zugewandt!“ Nicht Verachtung, nicht Distanzierung, nicht Verleumdung, nicht Empörung ist die Haltung, die Gott an Weihnachten gegen uns und die ganze Welt einnimmt. Sondern Er stellt sich drunter. Er geht selber an die niedrigste Stelle. Er nimmt selber still das ganze Leid auf sich – ohne zu klagen. Und gerade in dieser Demut begegnet uns seine unüberwindliche Kraft. Es ist die entschlossene Kraft seiner Liebe, die keinen verloren gehen lassen will, sondern bereit ist, um jeden von uns bis zum Letzten zu kämpfen.
Gott kommt mitten in der Nacht – wenn alles dunkel ist und jede Hoffnung gestorben zu sein scheint. Tiefer runter geht es nicht. Tiefer runter kommt keiner von uns. Und gerade darum gibt es Hoffnung für jeden!
Dieter Trautwein schließt sein Lied, indem er den Refrain nach der letzten Strophe mit einer kleinen Veränderung singen lässt: „Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsre Nacht nicht endlos sein!
„Nicht endlos!“ – Die gegenwärtige Situation wird nicht endlos sein. Die ganze krisenbeladene Situation unserer Welt wird nicht endlos sein. Unser eigenes Leben wird nicht endlos sein. Es wird ein Ende geben! Ein Ende der Nacht. Und dieses Ende – wird der Tag sein. Der Tag, an dem Jesus wiederkommt. Dann nicht mehr als schwaches Kind, sondern als der eine wahre König der Welt. Voller Freude wird dieser Tag sein für alle, die jetzt schon dem Kind in der Krippe ihr Leben gegeben haben; in denen jetzt schon das Neue lebt, das Weihnachten zu uns gekommen ist. An diesem Tag, auf den alle warten, die Jesus lieben, wird die ganze Welt neu werden wird. Dann ist die Nacht für immer vorbei.
Heute ist es noch Nacht. Weihnachten feiern wir mitten in der Nacht. Aber seit dieser heiligen Nacht warten wir und dürfen wir voller Hoffnung warten: Der Tag kommt! Er kommt gewiss. In unseren Herzen bricht er jetzt schon an, wenn wir Jesus hineinlassen. Um Ihn geht es zu Weihnachten, um Ihn allein. Es kann kein schöneres Weihnachtsfest geben, als wenn wir Ihn als unseren Ehrengast und König unter uns haben. Viele sagen: „Wer wird uns Gutes sehen lassen?“ Wir aber wollen sagen: „HERR, lass leuchten über uns das Licht deines Antlitzes!“ (Psalm 4,7).

Es grüßt Sie herzlich,                     
Ihr Pfr. Tobias Liebscher