Stätten der Christenheit - Die Freemasons‘Hall in London

Liebe Leser,

Auf ein merkwürdiges Bauwerk stößt man in London an der Great Queen Street: Wuchtig erscheint es und nahezu fensterlos. In seinem Inneren birgt es eine festliche Versammlungshalle, vornehm ausgestattet mit schweren Bronzetüren und imposanten Deckenmosaiken. Ins Auge fallen geheimnisvolle Bilder und Symbole an Decke und Wänden. Wie in einem Gotteshaus gibt es hier Bestuhlung und vor allem eine riesige Orgel. Außer dieser großen Festhalle befinden sich in diesem Gebäude noch weitere 23 kleinere Räume, die nicht weniger mysteriös wirken.

Seit seinem Bestehen 1775 war dieses Haus mehrfach neu- bzw. umgebaut worden. In seiner jetzigen Gestalt wurde das Gebäude von 1927 bis 1933 errichtet – und zwar im Baustil Art-déco.

Um es gleich zu sagen: Dieses Haus war nie eine Kirche. Und dennoch darf es mit Recht als eine Stätte angesehen werden, die für die Geschichte des christlichen Glaubens und insbesondere für die protestantische Frömmigkeit durchaus eine historische Bedeutung besitzt.

An diesem Ort – freilich noch im Vorläuferbau – fand die Gründungskonferenz der „Evangelischen Allianz“ statt: vom 19. August bis zum 1. September 1846. Über 900 Konferenzteilnehmer versammelten sich hier während dieser Zeit. Der größte Teil (84%) kam aus Großbritannien, der Rest war vor allem aus den USA (8%) und Kontinentaleuropa (7%) angereist.

Was veranlasste die Teilnehmer zu dieser Gründungskonferenz? Es ging ihnen darum, die protestantischen Gruppen und Strömungen innerhalb und außerhalb Englands zu einer Bewegung zusammenzuführen und zu stärken. Man muss bedenken: Zu jener Zeit hatten viele Protestanten das Bedürfnis, den damals zunehmend katholisierenden Tendenzen innerhalb der anglikanischen (englischen) Staatskirche etwas Wirkungsvolles entgegenzusetzen. Deshalb diese Konferenz in London. Das Ergebnis war die Gründung der „Evangelischen Allianz“. Von Anfang an verstand sich diese Allianz als ein Bund einzelner protestantischer Christen. Damals einigte man sich auch auf eine gemeinsame „Glaubensbasis“, die neun Punkte umfasst. Dazu gehört u. a. das Bekenntnis zur Bibel als dem vom Heiligen Geist inspirierten und irrtumsfreien Wort Gottes; außerdem die Überzeugung, dass der Mensch der Erlösung durch Christi Opfertod am Kreuz bedürfe; und die Erwartung der Wiederkunft Christi.

Nicht durchringen konnten sich damals die Konferenzteilnehmer zu dem einmütigen Ziel, die Sklaverei abzulehnen bzw. abzuschaffen. In diesem Punkt gab es offenbar deutliche Interessenkonflikte!

Viel Zeit ist seither vergangen, und die Evangelische Allianz ist längst eine weltweite Bewegung geworden. Sie umfasst ganz unterschiedliche pietistische, pfingstlerische und evangelikale Gruppen und Strömungen zu einem losen Bündnis. Die alljährliche „Allianzgebetswoche“ ist von dieser Bewegung initiiert.

Mit der Gründungskonferenz 1846 in London in jenem Haus an der Great Queen Street nahm die Allianzbewegung ihren Anfang.

Was aber hat es mit jenem geheimnisvollen Haus für eine Bewandtnis?

Damals wie heute war es und ist es ein zentraler Ort freimaurerischer Zusammenkünfte: In jenem großen Logentempel genossen die Gründerväter der Evangelischen Allianz einst Gastrecht.

Manch einer mag dies kurios finden! Doch wird es verständlicher, wenn man bedenkt, dass damals im protestantischen Bürgertum ein beachtlicher Teil selbstverständlich Mitglied in einer Loge gewesen ist. Und zumindest jene Logen, um die es hier geht, pflegten selbstredend und ausdrücklich ein christliches Selbstverständnis. Darum liegt auf deren Logenaltar auch die Bibel – aufgeschlagen üblicherweise an der Stelle, wo das Johannesevangelium beginnt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Vielleicht schließt sich hier der Kreis – sicherlich nicht ganz, aber wenigstens etwas?

Pfarrer Christof Schumann, Johanngeorgenstadt