Stätten der Christenheit - Le Mont St. Michel

Liebe Leser,
Niemand wird sich seiner Faszination entziehen können: Wenn sich am Morgen die Nebel lichten und die vergoldete Spitze der Abtei, die der Erzengel Michael bildet, im Sonnenlicht funkelnd auftaucht. Wer den heiligen Berg im Golf von St. Malo zu Fuß – wie einst die Pilger – erreichen will, sieht ihn schon lange aus der ringsum ebenen Landschaft der Salzwiesen auftauchen. Dann, beim Nahen wird bewusst, dass er – ehemals mit dem Festland verbunden, schon vor Jahrhunderten durch einen gewaltigen Sturm zur Insel geworden ist, die freilich je nach Gezeitenstrom wieder mit dem Festland verwächst.
Die Legende weiß zu berichten, dass der in der nahen Stadt Avranches residierende Bischof Aubert eine dreimalige Vision gehabt haben soll: Im Traum nahte sich ihm der Erzengel Michael und befahl ihm, auf dem unwirtlichen Felsen eine Kapelle zu errichten. Das war im Jahr 708. Rasch wurde der Berg zu einer bekannten Wallfahrtsstätte, u.a. weil im Mittelalter der Erzengel durch die Furcht der Menschen vor dem Jüngsten Gericht und der Verdammnis als Kämpfer gegen Teufel und Hölle eine große Popularität erhielt. (Sein Namenstag ist übrigens der 29. September.) Im 19. Jh. siedelten sich Benediktiner an und begannen, an der Abtei zu bauen. Zur geistlichen Festung ausgebaut hielt der Berg dem Ansturm der Engländer im hundertjährigen Krieg stand, was seiner Popularität weiter zuträglich war. Die Mönche empfingen hier Fürsten aus ganz Europa. Geistliches und Politisches vermischte sich. Sie fertigten Abschriften wertvoller Bücher in hervorragender Qualität, die sich freilich auch gut verkauften. Der Wohlstand des Klosters wuchs, so dass man es immer weiter ausbauen konnte. Wer heute durch die verschiedenen Ebenen des Klosters, das auf Grund des begrenzten Platzes immer mehr in die Höhe wuchs, geführt wird, staunt über die architektonische Weisheit, die im Bauwerk ihren Niederschlag fand, die sowohl dem klösterlichen Leben als auch den gegebenen Voraussetzungen Rechnung trug. Das geistliche Zentrum fand sein jähes Ende in der französischen Revolution. Kostbare Pergamente wurden im nahen Bischofssitz gerettet. Der Berg wurde entwidmet und zunächst als Gefängnis umgenutzt. Im 19. Jh. erkannte man dann seine touristische Anziehungskraft und nun begann eine Entwicklung, die den Felsen nicht nur zum Weltkulturerbe, sondern auch zu einem „touristischen Hotspot“ der Gegenwart machen sollte.
Seine geistliche Dimension konnten ihm aber auch Jahrhunderte weltlicher Nutzung nicht nehmen. Sie wird zum einen durch eine kleine monastische Gemeinschaft gepflegt, dem Besucher aber wohl vielmehr durch seine unvergleichliche Lage und Bauweise bewusst: zwischen Himmel und Erde schwebend, mit der Spitze zum Herrn aller Herren weisend, die Jahrtausende durchstehend und weltlichen Heeren standhaltend. Der Mont Michel weiß, dem Besucher eine Ahnung davon einzuflößen, dass da eine Macht ist, die größer ist als alles, was wir uns vorstellen können, die Menschen befähigt, Wunderbares zu seiner Ehre zu erschaffen und uns durch alle Zeiten und Gezeiten immer wieder zu sich rufen will, zu dem Herrn der Welt.

Pfarrer Michael Poppitz, Stützengrün

Bildquelle Hintergrundbild: 

„Mont Saint-Michel, in Normandy (Manche, Basse-Normandie, France), at night.“ by Benh LIEU SONG
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